
Das heutige Berlin ist noch immer mit etlichen Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg übersät – darunter auch Graffiti! Als die Rote Armee ihren Weg durch den letzten Widerstand der Nazis in Berlin erkämpfte, hinterließen die Gefechte Pockennarben auf etlichen Gebäuden in der Stadt. Maschinengewehrfeuer, Artilleriebeschuss und Schrapnelle fraßen sich tief in Steinfassaden, die bis heute vom erbitterten Kampf um Berlin zeugen. Diese sind insbesondere auf der Museumsinsel hoch frequentiert und stellen ein schweigendes Mahnmal für den deutschen Nationalsozialismus dar.
Graffiti in der Bärenhöhle
Eine der interessantesten und kontroversesten Narben aus den Nachwehen ebenjenen Gefechts ist noch immer im Reichstagsgebäude zu finden: Nachdem das Gebäude am 2. Mai 1945 von der Roten Armee eingenommen wurde und der Kampf um Berlin ein Ende fand, hinterließen die Soldaten ihre Spuren in Form von Graffiti, um zu sagen: „Ich war hier!“.
Mit verbranntem Holz und farbiger Kreide verewigten sich sowjetische Truppen aller militärischen Ränge auf den Wänden im Inneren des Reichstagsgebäudes. Unter den Graffiti lassen sich über 700 Namen identifizieren, zusammen mit Vulgaritäten und Reflexionen der Soldaten nun da der auszehrende Krieg ein Ende genommen hatte.
Die Einnahme des Reichstagsgebäude war eines von Joseph Stalins wichtigsten militärischen Zielen in Berlin, hauptsächlich wegen seiner Symbolkraft und seinem Ruf als „Hitlers Bärenhöhle“. Ein Sinnbild, das sich so auch mehrfach zwischen den Graffiti finden lässt, aber faktisch nicht ganz stimmt: Tatsächlich war das Gebäude in Dorn in Hitlers Auge, denn es repräsentierte damals wie heute die Werte der Demokratie.
Nichtsdestotrotz war das Parlamentsgebäude eines der Top-Ziele und sollte nach Stalins Plänen termingetreu zum 1. Mai 1933 eingenommen werden – ohne Rücksicht auf Verluste. Das Vorhaben konnte dann aber doch erst einen Tag später als geplant umgesetzt werden.
Wiedervereint und wiedergefunden
In der Nachkriegszeit gerieten die Markierungen der sowjetischen Soldaten schnell in Vergessenheit. Behelfsmäßige Reparaturen in Form von Verkleidungen deckten die Graffiti für ein halbes Jahrhundert ab. Erst dann machte sich das wiedervereinigte Deutschland daran, das Parlamentsgebäude zu restaurieren.
Mit der Renovierung wurde der britische Architekt Norman Foster beauftragt. 1995 entfernt er die Verkleidungen und entdeckt zu seiner Überraschung die Graffitis der sowjetischen Soldaten. Tief beeindruckt von seinem Fund trifft er die Entscheidung, seine Blaupausen anzupassen, um die kyrillischen Zeichen an der Wand zu erhalten.
Seine Wertschätzung für die historischen Markierungen bleibt jedoch alles andere als unumstritten: So sprechen sich die Politiker Johannes Singhammer (CSU) und Horst Günther (CDU) für eine überwiegende Entfernung der Graffiti aus. Sie argumentieren, der Reichstag sei in erster Linie die Heimat des Parlaments und kein Dokumentationszentrum.
Die Schriftzüge blieben, unter anderem auch auf Nachdruck Moskaus. Regierungsstellen schalteten sich ein und forderten entweder den Erhalt der historischen Zeugnisse oder alternativ eine Überreichung der Wandsegmente an ein russisches Museum. In Absprache mit Vertretern der russischen Botschaft wurden anschließend einige Obszönitäten von den Wänden entfernt, um die deutsch-russische Freundschaft zu ehren.
Heute können die Graffiti immer noch im Reichstag bei geführten Touren durch das Parlamentsgebäude besichtigt werden.