Vor 50 Jahren ereignete sich ein bedeutsamer Vorfall an der Berliner Mauer, der aktuell in einem Gerichtsprozess am Berliner Landgericht aufgearbeitet wird. Ein ehemaliger Stasi-Leutnant im Alter von 80 Jahren steht unter dem Verdacht, einen polnischen Bürger erschossen zu haben, der versuchte, dem Kommunismus zu entfliehen.
Erschoss der Stasi-Mitarbeiter einen polnischen Flüchtling?
Jahrelang lebte der ehemalige DDR-Geheimpolizist –dessen Name nicht offiziell bestätigt wurde– zurückgezogen in einem Haus am Stadtrand von Leipzig. Den Informationen der Staatsanwaltschaft zufolge soll er während seiner Tätigkeit für die Stasi Czeslaw Kukuczka erschossen haben, als dieser versuchte, von Ost-Berlin in den Westen zu gelangen. Der Anwalt des inzwischen 80-jährigen Mannes bestritt vor Gericht die Anklage wegen Mordes.
Kukuczka war ein polnischer Feuerwehrmann und Vater von drei Kindern, der sich ein besseres Leben im Westen erhoffte. Angeblich reiste er 1974 nach Ost-Berlin, um dort ein Wochenende zu verbringen, plante jedoch in Wirklichkeit seine Flucht in die USA. Er trug eine Aktentasche bei sich, in der er vermeintlich eine Bombe versteckte, und drohte damit, die polnische Botschaft in die Luft zu sprengen, falls er nicht die Erlaubnis erhielte, Ostdeutschland zu verlassen. Nachdem er die erforderlichen Dokumente erhalten hatte, wurde er von Stasi-Beamten zum Kontrollpunkt am Bahnhof Friedrichstraße begleitet. Doch anstatt die Freiheit zu erlangen, wurde ihm beim passieren des Kontrollpunktes in den Rücken geschossen und er verblutete später in der Klinik des Stasigefängnisses Hohenschönhausen.
Stasi-Akte verdichtet Vermutungen
Eine Gruppe westdeutscher Schülerinnen, die von einem Schulausflug nach Ostberlin zurückkehrten, will gesehen haben, wie ein Mann mit Regenmantel und Sonnenbrille auf ihn schoss. Zwei der damals noch minderjährigen Schülerinnen aus Hessen sollen beim Prozess als Zeuginnen auftreten.
Ostdeutsche und polnische Beamte hatten später versucht, den Fall zu vertuschen, indem sie Kukuczkas Familie nicht über den Vorfall informierten. Die Familie erhielt lediglich eine Urne zur Beerdigung, aber nie den vollem Umfang der Ereignisse. In den 1990ern, nach der deutschen Wiedervereinigung, gab es dann mehrere Ermittlungen, aber nie genug Beweise, um den Mörder eindeutig zu identifizieren. 2016 fanden polnische und deutsche Historiker schließlich neue Beweise in Stasi-Archiven. Darunter auch Unterlagen, die darauf hinweisen, dass der Angeklagte für seine Rolle in dem Fall offenbar eine Medaille erhalten hatte. Die Archive zeigten auch, dass Kukuczkas Aktentasche tatsächlich keine Bombe enthielt und widerlegen spätere Behauptungen ostdeutscher Beamter, er habe eine Waffe bei sich gehabt. Die Staatsanwälte glauben, dass diese neuen Beweise belegen, dass der 80-jährige Rentner der Mann ist, der für die Tat vor 50 Jahren verantwortlich ist.
Mindestens 140 Menschen wurden getötet, als sie versuchten, das kommunistische Ostdeutschland zu verlassen, als die Berliner Mauer noch stand. Nur selten können die Verantwortlichen allerdings vor Gericht gestellt werden und werden wenn in der Regel nur wegen Totschlags und nicht wegen Mordes angeklagt, weshalb der aktuelle Fall eine besondere Brisanz mit sich trägt.