SAVVY Contemporary, der Projektraum in Wedding, ist dafür bekannt, unbequeme Themen anzusprechen und dabei einen dezidiert nicht-weißen, nicht-westlichen Blickwinkel einzunehmen. Was wichtig ist, aber manchmal etwas zu verkopft und unnahbar daherkommen kann. Nicht so bei der neuen Ausstellung: „4 + 3 = 1 There are stories to be forged for common denominators to come forth and social balance to be restored.“
Kuratorin Kelly Krugman gibt zu, dass dieser Titel sich anhört wie ein Zauberspruch. Das sei intendiert. „Wir müssen neue Geschichten schmieden, damit unsere Gemeinsamkeiten deutlich werden und gesellschaftliche Balance eintreten kann.“ Die alten Geschichten, die Geschichten des Westens sind beispielsweise jene der Mann-Frau Dualität, der Geist-Körper, Natur-Kultur Dualität. Geschichten, die besagen, dass nur der Mensch mit Vernunft begabt ist, dass nur bestimmte lebende Organismen Handelnde sein können.
Der ‚Zauberspruch‘ formuliert einen großen Anspruch, der in der Kunst stückweise eingelöst werden kann. Insgesamt 14 Künstler sind Teil dieser Ausstellung, die sich an nicht-westlichen Kosmologien und Wissensordnungen orientiert und in fruchtbaren Dialog mit ihnen eintritt. Es geht um Themen wie Rassismus, Klimawandel, Begrenzungen, das Leben nach dem Tod, um Körperbilder und um hybride Wesen zwischen Mensch, Insekt und Pflanze. Doch es hört nicht bei der Ausstellung auf: Performances, Workshops, Audiobücher, eine kleine Bücherauswahl und eine Party sind alle Teil des Projekts.
Die Luft lesen lernen
Der Werke sind nicht viele, aber Qualität triumphiert vor Quantität. Manche, wie Qianxun Chen’s Installation, sind spekulativ und horchen Pflanzen ab, suchen ihre Biodata abzubilden. Andere, wie Viron Erol Vert’s Installation gehen subtilen und institutionalisierten Formen der Ausgrenzung nach. „Bist du Türke“, fragt seine Installation, die zugleich seinen Eltern in 75 speziell angefertigten Teppichen Tribut zollt und die Vorstellung, dass man in eine vorgefertigte Box passen soll, dass die eigene Identität sich in einem Wort ausdrücken kann, ablehnt.
Viron Erol Vert war Türsteher im Ostgut, dem Vorgänger des Berghains. Dies ist keine unwichtige Info, denn die Party als Methode und das Nachtleben als Ritual und Raum der Begegnung ist nach Krugman eine weitere Säule der Ausstellung. Rie Nagais massives Gemälde Night (265 x 665cm), das einzige der Ausstellung, ist ihre Art und Weise sich Clubs anzunähern. Gemäß der japanischen Vorstellung des „Luft lesens“ spürt Nagai den Energien nach, die diese Orte des ritualisierten Tanzes ausstrahlen.
Von Berlin bis nach Samoa
Es wird bereits deutlich: Die Spannweite von 4+3=1 erstreckt sich um den Globus. Von Zypern bis nach Samoa, von Altägypten bis nach Brasilien und zurück nach Berlin. Einige der spannendsten Werke sind die Kollagen von Zohra Opoku, die sich dem Ägyptischen Totenbuch widmen und Fragen nach den letzten Dingen stellen.
Aber auch das Kellergewölbe von SAVVY bietet neue Begegnungsräume, wie das Quarto de Cura [V] von Castiel Vitorino Brasileiro. Die erste Rauminstallation der Künstlerin außerhalb Brasiliens ist wie ein Altar. Duftende Blumen, Kissen, aufgehäufte Erde, Gläser, eine halbkreisförmige Wand mit Symbolen und Wirksprüchen umgeben den Eintretenden. Der Effekt soll im Sinne der Bantu-Ontologien „moments of safety, liberation, recalibration“ herbeirufen. Es hat etwas tief Entspannendes und Weihendes, man spürt, wie sich Muskelpartien lockern und Gesichtszüge glätten.
Die Ausstellung wird um 19 Uhr im Zuge einer Performance aktiviert – und um den Nightlife-Fokus nicht zu vergessen, folgt ein Set von Yha Yha. Kelly Krugmans erste kuratorische Arbeit ist ein großer Gewinn für den Besucher und eine Geschichte, die ich gerne teile.
4 + 3 = 1 There are stories to be forged for common denominators to come forth and social balance to be restored. Research, exhibition, performance and publication project.
Kuratiert von: Kelly Krugman und Lynhan Balatbat-Helbock.
Künstlerische Leitung: Arlette-Louise Ndakoze.
Eröffnung: 22.07.2022 19:00